Bergkarabach und Armenien: Was Deutschland und EU jetzt tun sollten

Analyse

Bis auf wenige Ausnahmen sind alle der über 100.000 armenischen Bewohner*innen nach der jüngsten Offensive Aserbaidschan innerhalb weniger Tage nach Armenien geflohen. Trotz laufender Verhandlungen könnten weitere Eskalationen folgen. Welche Optionen haben Deutschland und die EU?

Ein schwarzes Auto mit viel Gepäck auf dem Dach fährt an zwei Polizisten vorbei, im Hintergrund viele Menschen und Autos, dahinter verregnete Berge
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Menschen fliehen aus Bergkarabach.

„Frieden ohne Freiheit heißt Unterdrückung. Frieden ohne Gerechtigkeit nennt man Diktat“ – so Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung am 19. September. Scholz sprach über die Ukraine und das Erfordernis eines gerechten Friedens, der die Prinzipien der UN-Charta respektiert.

Es gibt nicht viele Gemeinsamkeiten zwischen Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und dem armenisch-aserbaidschanischen Konflikt um Bergkarabach. Doch auch im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt gilt: Es kann keinen nachhaltigen Frieden ohne Freiheit und Gerechtigkeit geben. Knapp drei Jahrzehnte lang hatten sich zunächst Armenier*innen – in Bergkarabach und Armenien – nach dem für sie siegreichen ersten Karabach-Krieg 1992-1994 gegen eine Verhandlungslösung gestellt, für die sie den damals vorteilhaften Status Quo aufgeben und die Zugehörigkeit Bergkarabachs zu Aserbaidschan hätten anerkennen müssen.

Mithilfe seiner steigenden Einnahmen aus Öl und Gas rüstete Aserbaidschan auf, und spätestens seit dem Bergkarabach-Krieg 2020 wurde deutlich, dass Aserbaidschan willens und in der Lage ist, die Region militärisch zurückzuerobern. Die jüngste Offensive Aserbaidschans gegen Bergkarabach am 19. September schaffte endgültig Fakten und zwang die armenische De-Facto-Regierung von Bergkarabach zur Kapitulation. Jetzt ist es Aserbaidschan, das Friedensbedingungen diktiert, ohne sich über Freiheit und Gerechtigkeit auch für die Gegenseite Gedanken machen zu müssen. So geschieht nun, was zu befürchten war: Ein Großteil der Bevölkerung flieht aus Bergkarabach nach Armenien.

Die Geschichte des Konflikts ist lang

Der massive Angriff aserbaidschanischer Armeeeinheiten auf die ethnisch armenische Enklave Bergkarabach am 19. September ist ein weiteres dramatisches Kapitel militärischer Eskalation im Konflikt um Bergkarabach, der Ende der 1980er Jahre zunehmend eskalierte. Im Kern ging und geht es um die Frage der territorialen Integrität des aus der Sowjetunion hervorgegangenen Nationalstaats Aserbaidschan gegenüber der nationalen Selbstbestimmung der armenischen Mehrheitsbevölkerung des ehemals sowjetischen Autonomen Gebiets Bergkarabach, das von Stalin als Enklave innerhalb Aserbaidschans konzipiert worden war.

Der Konflikt reicht jedoch bis ins frühe 20. Jahrhundert zurück. Er eskalierte zunächst nach dem Zerfall des russischen Reichs und wurde durch die Stalinsche Nationalitätenpolitik unterdrückt, sodass es zu einem vergleichsweise friedlichen Zusammenleben kam. Während der Perestroika brach der Konflikt jedoch erneut aus und eskalierte nach dem Ende der Sowjetunion zu einem massiven Krieg, der circa 40.000 Opfer forderte.

In der langen Geschichte des Bergkarabach-Konfliktes gibt es Täter und Opfer auf allen Seiten

Nach dem faktischen militärischen Sieg der armenischen Seite blieben Bergkarabach und sieben die Region umgebende aserbaidschanische Gebiete 26 Jahre lang de facto unter armenischer Kontrolle. Insgesamt über eine Million Aserbaidschaner*innen und Armenier*innen wurden vertrieben oder sahen sich gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, davon waren über zwei Drittel Aserbaidschaner*innen. Während dieser langen Periode gelang es im Rahmen der sogenannten Minsker Gruppe der OSZE nicht, beide Seiten zur Aufgabe ihrer Maximalpositionen zu bewegen und einen Kompromissfrieden zu erreichen. Das faktische Konfliktmanagement jedoch hatten die internationalen Akteure mehr oder weniger an Russland „outgesourced“. Sie verhängten lediglich ein nicht bindendes OSZE-Waffenembargo und versuchten die Konfliktparteien primär durch „gutes Zureden“ zu einer Verhandlungslösung zu bewegen, was offensichtlich scheiterte.

So gibt es in der langen Geschichte des Bergkarabach-Konfliktes Täter und Opfer auf allen Seiten. Zwei bzw. drei Konfliktparteien, sofern man von Bergkarabach als eigenständiger Konfliktpartei ausgeht, vertraten und vertreten im Verlauf des Konfliktes legitime Interessen ebenso wie sie für Gewalt und Kriegsverbrechen verantwortlich waren.

Militärische "Lösungen" kommen zurück

Gestärkt durch Waffenlieferungen aus der Türkei und Russland und ermutigt durch die fragile geopolitische Lage, griff Aserbaidschan 2020 erfolgreich zum Mittel der Gewalt und eroberte in einem sechswöchigen Krieg die sieben armenisch besetzten, an Karabach angrenzenden Gebiete zurück. Außerdem sicherte es sich die Kontrolle über circa ein Drittel des Territoriums von Bergkarabach. Die am 9. November 2020 geschlossene, von Russland vermittelte Waffenstillstandsvereinbarung sah die Rückgabe aller zuvor armenischen besetzten Gebiete vor, die Stationierung russischer Friedenstruppen bis 2025, Sicherheitsgarantien für die Bevölkerung von Bergkarabach, eine von den Friedenstruppen abgesicherte Transportverbindung zwischen Bergkarabach und Armenien (Latschin-Korridor) sowie eine Verkehrsverbindung zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave Nachitschewan durch Armenien.

Wie sich spätestens seit der Blockade des Latschin-Korridors seit Dezember 2022 andeutete, entschied sich der aserbaidschanische Präsident Alijew für einen klaren Bruch des Waffenstillstandsabkommens von 2020, um sich aus einer Position maximaler Stärke mit militärischer Gewalt ein für alle Mal des „Problems“ der armenischen Bevölkerung von Bergkarabach und der von ihr erhobenen Autonomieansprüche zu entledigen. Äußerungen im Westen, die die Verantwortung für die aktuelle Gewalt undifferenziert „beiden Konfliktparteien“ zuschreiben, sind daher falsch und irreführend.

Der nach der schweren militärischen Niederlage im Krieg von 2020 unter immensem innen- und außenpolitischem Druck stehende, 2018 und 2021 demokratisch gewählte Premier Nikol Paschinjan hat die Unterstützung der Unabhängigkeitsbestrebungen von Bergkarabach bereits im Mai 2023 aufgegeben und die Zugehörigkeit der Region zu Aserbaidschan offiziell anerkannt. Allerdings bestand und besteht Armenien seither zu Recht auf Garantien für die Sicherheit und Rechte der armenischen Bevölkerung Bergkarabachs. Angesichts der über drei Jahrzehnte bestehenden Feindseligkeiten und der vor allem in Aserbaidschan in den letzten Jahren ins Extreme gesteigerten Hasspropaganda gegen alles Armenische musste damit gerechnet werden, dass es zu Vertreibungen und Gewaltexzessen gegen Militärangehörige und die Zivilbevölkerung Bergkarabachs kommen könnte, sobald Aserbaidschan die volle Kontrolle über die Region zurückerlangt. Genau diese Situation scheint nun einzutreten: So fliehen in diesen Tagen Zehntausende Armenier*aus Bergkarabach, weil sie berechtigte Angst um ihr Leben und ihre Existenz haben und sich keine Zukunft unter aserbaidschanischer Kontrolle vorstellen können.

Ist Armenien selbst sicher?

Armenier*innen sind jedoch nicht nur in Bergkarabach, sondern auch im völkerrechtlich anerkannten Armenien nicht sicher. Aserbaidschanische Politiker*innen und Staatsmedien spekulieren weiter über mögliche Szenarien für die gewaltsame Durchsetzung eines Korridors von Aserbaidschan zur Enklave Nachitschewan und in die Türkei – über armenisches Staatsgebiet (der sogenannte Sangesur-Korridor). Spätestens seit den ersten Angriffen Aserbaidschans auf armenisches Staatsgebiet im Frühjahr und Herbst 2022 und einem starken Anstieg revisionistischer Rhetorik aus Baku wächst in Armenien die Furcht, dass dies im schlimmsten Fall eine Besetzung der südarmenischen Provinz Sjunik bedeuten könnte. Im aserbaidschanischen Parlament fand kürzlich eine öffentliche Anhörung zu „Westaserbaidschan“ statt – ein Konzept, das sich klar auf das Territorium des heutigen Armeniens bezieht.

Die Türkei steht fest an der Seite Aserbaidschans

Hierbei, wie schon im Krieg 2020 und folgenden Offensiven, spielt die Türkei eine wichtige Rolle. Nicht nur hat sie Aserbaidschan mit Waffen versorgt, die türkische Regierung verschafft Alijew auch politische Rückendeckung. Am 24. September 2023 besuchte der türkische Präsident Erdogan zum ersten Mal gemeinsam mit Alijew Nachitschewan – möglicherweise eine weitere Drohung gegenüber Armenien, wobei Erdogan auch erwähnte, dass der „Korridor“ zwischen Aserbaidschan und der Türkei über den Iran geschaffen werden könnte, sollte Armenien sich weiter weigern, einen solchen über Armenien zuzulassen. Im Bergkarabach- und Armenien-Aserbaidschan-Konflikt wird erneut deutlich: Die aktuelle türkische Außenpolitik orientiert sich nicht an der Suche nach langfristiger Stabilität und Interessensausgleich, sondern am „Recht des Stärkeren“ und, im Fall der Beziehungen zu Aserbaidschans, einer pan-türkischen „Bruderschafts“-Ideologie.

Russland wandelt sich von der Schutzmacht zur Bedrohung

Zwielichtig ist die Rolle Russlands in der aktuellen Eskalation: Politisch und militärisch geschwächt durch seinen Angriffskrieg auf die Ukraine, hätte Russland mit den circa 2000 als Friedenstruppen an der Kontaktlinie um Bergkarabach stationierten russischen Soldaten den aserbaidschanischen Truppen kaum wirksam entgegentreten können. Doch es gab auch keinerlei Versuche, der Rolle als Sicherheitsgarant gerecht zu werden. Offenbar besteht im Kreml kein politischer Wille, der armenischen Seite mehr als unbedingt nötig zur Seite zu stehen. Während sich die Autokraten Putin und Alijew in den letzten Jahren politisch, wirtschaftlich und militärisch immer stärker angenähert haben, ist die Entfremdung zwischen dem Kreml und der Gesellschaft und politischen Führung Armeniens nach der „samtenen Revolution“ 2018 und der verweigerten russischen Unterstützung im Krieg 2020 riesengroß geworden. Gegenüber der armenischen Regierung sitzt Moskau jedoch eindeutig am längeren Hebel: Ein Großteil der Energie-, Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur Armeniens befindet sich im Besitz russischer Konzerne, die militärische Sicherung der Außengrenzen erfolgt durch russische Truppen, und die Verflechtungen zwischen den Geheimdiensten sind eng.

Den Versuchen der armenischen Regierung, diese Abhängigkeit von Moskau zu reduzieren und der armenischen Außenpolitik neue Spielräume durch stärkere Verbindungen zur EU und den USA zu verschaffen, sind enge Grenzen gesetzt. Der Kreml mischt sich zudem aktiv in die armenische Innenpolitik ein und trägt so zur Destabilisierung bei. Margarita Simonjan, Chefredakteurin von RT und Chefpropagandistin des Kremls, rief in ihrem Telegramkanal in schärfster Rhetorik dazu auf, sich an den aktuell in Armenien stattfindenden, größtenteils nationalistischen Protesten zu beteiligen. Diese Proteste werden koordiniert von Ex-Präsident Robert Kotscharjan, der sich seiner engen Verbindungen nach Moskau brüstet und in Armenien unter anderem wegen Korruption angeklagt ist.

Deutschland, EU und USA schauen zu

Für die USA und die EU markiert die jüngste Offensive Aserbaidschans auf Bergkarabach ein klares Scheitern ihrer diplomatischen Vermittlungsversuche der letzten Monate. Zu sehr hat man darauf vertraut, dass allein über Gespräche Sicherheit für die Menschen in Bergkarabach gewährleistet werden könnte. Auch wenn ein Friedensvertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan noch nicht komplett vom Tisch ist – am 5. Oktober soll ein Treffen von Alijew und Paschinjan im Rahmen der Europäischen Politischen Gemeinschaft, unter Beteiligung von Bundeskanzler Scholz, dem französischen Präsidenten Macron und EU-Ratspräsident Michel, stattfinden – ist ein gerechter, freiheitlicher Frieden nach Aserbaidschans neuster Offensive und der weiter bestehenden Bedrohung des armenischen Kernlands noch unwahrscheinlicher geworden.

Deutschland und die EU sollten ihre Präsenz in Armenien ausbauen

Einmal mehr hat militärische Stärke im Südkaukasus gesiegt. Hier kann die Europäische Beobachtungsmission in Armenien (EUMA) nur wenig ausrichten. So steigt auch der Frust der Armenier*innen mit den westlichen Partnern, die sich zwar zunehmend solidarisch mit Armenien äußern, aber nicht viel anzubieten haben, wenn es hart auf hart kommt.

Handlungsoptionen für Deutschland und die EU

Wichtig wäre vor allem, dass Deutschland und die EU Aserbaidschan nicht länger nur gut zureden, sondern für den Fall weiterer aggressiver Schritte Sanktionen vorbereiten, etwa im Energiebereich. Zudem sollte die Bundesregierung über die Vereinten Nationen (VN) und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) auf die Durchsetzung eines internationalen Monitorings der Sicherheitslage und humanitären Situation der in Bergkarabach verbliebenen Zivilbevölkerung dringen.

Deutschland und die EU sollten insgesamt ihre Präsenz in Armenien ausbauen. Sie sollten nicht nur akut, sondern auch längerfristig Unterstützung für die Versorgung und gesellschaftliche Integration für die aus Bergkarabach geflüchteten Menschen bereitstellen. Ihre Zusammenarbeit mit Armenien im Bereich der demokratischen und wirtschaftlichen Entwicklung sollten sie weiter vertiefen, auch wenn schnelle Ergebnisse angesichts der akuten militärischen Bedrohung und Krise nicht zu erwarten sind. So können sie dazu beitragen, dem von Russland und pro-russischen Kräften propagierten Narrativ, dass die demokratische Revolution Armenien nur Unheil gebracht habe, zumindest mittelfristig entgegenzuwirken.

Zudem sollten Deutschland und die EU über weitere Angebote an Armenien nachdenken – ein wichtiger, symbolträchtiger Schritt wäre die Einrichtung der Visafreiheit für Armenier*innen für kurzfristige Aufenthalte. Eine weitere Option wäre die erstmalige Unterstützung Armeniens über die Europäische Friedensfazilitiät, zunächst beschränkt auf nichtlethales Equipment und Austausch von Expertise im Bereich der Verteidigung.

Auch sollten Deutschland und die EU auf die Türkei einwirken, den Normalisierungsprozess mit Armenien nicht weiter zu blockieren und sich für eine friedliche Zukunft des Südkaukasus einzusetzen. Dies sollte gerade auch im türkischen wirtschaftlichen Interesse sein.

Die Chancen für einen freiheitlichen, gerechten Frieden im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt stehen derzeit schlecht. So wie Aserbaidschaner*innen im und nach dem ersten Bergkarabach-Krieg sehen sich nun Bergkarabach-Armenier*innen gezwungen, ihre Heimat aufzugeben. Aserbaidschan droht weiterhin damit, seine Interessen auch auf armenischem Territorium gewaltsam durchzusetzen. EU und Bundesregierung haben lange gebraucht, eine klare Sprache zu finden. Auch wenn ihr Einfluss begrenzt sein mag, sollten sie nun endlich durch klare Handlungen alles daran setzen, noch Schlimmeres zu verhindern.